Die Geschichte von
einem, der auszog,
wieder Tempelhofer
zu werden
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Es war einmal ein kleiner Berliner Junge, der in Tempelhof aufwuchs. Zuerst in der Konradinstraße, später dann am Attilaplatz, dort, wo es auch heute noch unten im Haus einen Blumenladen gibt.
Aus dem kleinen wurde dann ein großer Junge, der auch hier zur Schule ging. Am 5. März 2013 ist es 50 Jahre her, dass er in Tempelhof sein Abitur bestand.
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An der Ecke gegenüber dem Gemeindehaus war damals die Stammkneipe der Teens und Twens, mit dem unvergesslichen Wirt »Fred«, der zu Kaisers Zeiten in einem Musikbatallion gespielt hatte. An der Albrechtstraße wurde ein ev. Jugendzentrum gebaut.
Die besseren Rock'n Roll-Feten gab es allerdings in Neu-Tempelhof im Jugendheim gleich hinter dem Tunnel.
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Das war die Zeit, als ich mit meinem Jugendfreund »Butschkow« (später ein bekannter Cartoonist) ein wenig um die Wette zeichnete. Als ein anderer Jugendfreund den Drogen verfiel und sich erschoss. Als ich meine Jugendfreundin kennen lernte, die ein paar Jahre später meine erste Frau wurde.
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Mein Vater musste 2 Jahre ins Krankenhaus und konnte danach nicht mehr Bäcker und Konditor sein. Das hieß für mein Taschen- geld, Führerschein, andere Wünsche: Zettel vor den Tempelhofer Kinos verteilen, Jobben auf dem Fruchthof (damals noch in Mariendorf), in den Ferien beim Sklavenhändler oder auf dem Bau.
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Mein erstes Studium würde man heute »Kommunikationswissen- schaften« nennen. Doch im Berlin mit der Mauer damit einen Job zu finden, fiel schwer. So hieß es: »tschüs Tempelhof« und nach Frankfurt am Main zu gehen. Auch dort noch kurz studiert, als der Begriff »Marketing« aufkam - aber das war's dann, im 68-er Sommersemester war Schluss.
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Mit manch anderem Job hätte ich ja Tempelhofer bleiben können. Aber ich bereue nichts von der vielseitigen Zeit, in der ich als Werbetexter, Film- und Fernseh-Producer, Autor und Regisseur für Radio-Luxemburg-Sendungen, Fachjournalist für IT, Technik und Windenergie, Art Director, Online-Redakteur und vieles mehr für Hunderte abwechslungsreicher Themen tätig war.
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So ging es häufig auch quer durch die Republik. Zum Dreh nach London, zum Radio nach Luxemburg, zur CeBIT nach Hannover, zur Systems nach München ... Die Kinder wurden groß und studierten, die erste Ehe zerbrach... Und mit der zweiten Frau, ohne dass wir dies zunächst wahr haben wollten, begann die Geschichte wieder ganz neu.
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Denn mit einer plötzlichen Erkrankung und vorzeitigem Ruhestand meiner Frau hielt uns nichts mehr in Frankfurt. Aber nicht etwa ich als Berliner, sondern meine Frau sprach die Idee aus, ausgerechnet (wieder) nach Berlin zu ziehen. Und bei unserem nächsten Berlin-Trip fanden wir spontan eine Wohnung, packten die Kisten...
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Glauben Sie an Vorsehung? Oder dass einen das Schicksal dorthin führt, wo eine Aufgabe wartet? Nun, in unserem Fall war es so. Denn die erste Wohnung in Berlin fanden wir durch einen statistisch unfassbaren Zufall, mit einem Zettel zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und sie lag zwar in Tempelhof - aber eben nur in Tempelhof als Bezirk.
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Wir zogen nach Marienfelde. Und, kaum angekommen, schlossen plötzlich rundum alle Supermärkte - und auch der letzte drohte zu schließen. Die ganze Nahversorgung an der oberen Marienfelder Allee brach zusammen, über zehntausend Einwohner hätten bis zu zwei Kilometer(!) für ihren Einkauf zurücklegen müssen!
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Mein »Pech«, dass ich diesen Missstand im Internet anprangerte und auch tadelnde Worte an Politik und Handelskonzerne schrieb. Denn kurz darauf wurde ich von den Marienfeldern »wehrlos« zum Häuptling einer neuen Bürgerinitiative gemacht.
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Kurzum, wir schafften es, dass Edeka an zentraler Stelle einen neuen Supermarkt baute, dass an anderer Stelle ein Einkaufszentrum mit Kaufland wiederbelebt werden konnte. Gegen die Pläne von windigen Investoren, die sogar eine Sportstätte vernichten wollten, und gegen den Widerstand des Berliner Senats.
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Außerdem hat die neue Bürgerinitiative zum Beispiel Mädchenfußball gegründet, für barrierefrei abgesenkte Bordsteine gesorgt, Gehwegschäden gemeldet, und eine ganze Menge mehr. Und als die Nahversorgung wieder intakt war, kam wieder einmal alles ganz anders...
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Plötzlich verhielten sich unsere bis dato sehr netten Vermieter ganz komisch ... Die »Chemie« stimmte nicht mehr. Und als wir beschlossen, uns lieber eine andere Wohnung zu suchen, kam ans Tageslicht, dass sich eine Tochter unserer Vermieter einen neuen Mann geangelt hatte und wieder in »ihre« (unsere) Wohnung wollte.
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Zwei Wohnungen in Lichtenrade, sanierter Altbau in Steglitz, Erdgeschoss gleich hinter dem Insulaner .... Im engeren Umkreis in Marienfelde fanden wir nichts. Zehlendorf reizte uns. Bei einer Super-Wohnung in Wannsee war leider ein Burger-Shop gleich nebendran. Durch Zufall sollte es dann unerwartet Tempelhof werden - direkt im alten Kern von Tempelhof. Und das kam so:
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In Tempelhof, im alten Ortsteil, wurde eine Wohnung »direkt am Park mit ruhigem Balkon« angeboten. Ruhiger Balkon? Makler-Geschwätz! Die Wohnung lag doch direkt an der stark befahrenen Manteuffelstraße! Aber nein, meine Frau wollte unbedingt hin, das Marmor- Treppenhaus mit Rundbogen und rotem Teppich in Augenschein nehmen ...
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Es war noch schlimmer als befürchtet: Die Wohnung lag auch noch Wand an Wand mit einer Kneipe. Weiter ging's - aber das Schicksal lenkte unser Auto nicht den kürzesten Weg entlang, sondern durch die zweite Seitenstraße. Ein hellblau und weiß sanierter Altbau sprang uns ins Auge. Und in der ersten Etage ein Schild »Zu vermieten«.
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Ein paar Tage später: Termin mit dem Makler. Und die Wohnung im hellblauen Haus war eine große Enttäuschung: Kaum Stellfläche für Schränke, das Schlafzimmer zu eng, Bad und Küche sehr dunkel, etliche Quadratmeter in zwei Fluren verschwendet.... Daraufhin sagte der Makler: »Aber ich hätte da was, wo Sie Ihre Möbel bestimmt unterkriegen.«
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Und so standen wir wenig später mitten im alten Tempelhof in einer ruhigen Hinterhaus-Wohnung mit zwei Balkonen und Gäste-WC, Altbau aus Kaiser's Zeiten, alle Fenster nach Süden, davor sehr viel Grün... Und als meine Frau in das helle Bad mit mehr als zehn Quadratmetern blickte, da schlug unsere Angst vor neuer Enttäuschung in Zuneigung um.
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So kam ich nach so manchen Jahrzehnten, fast »aus Versehen«, wieder in das alte Tempelhof, meine frühere Heimat, zurück.
Die neue Wohnung lag nahe an meinem früheren Schulweg, nur wenige hundert Meter von der Stelle entfernt, wo ich einst meine Kindheit und Jugend verbracht hatte.
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Und so danke ich dem Schicksal - und meiner Frau, die auch ein wenig Schicksal gespielt hat - dass ich heute wieder hier im alten Teil
von Tempelhof bin.
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Ende gut,
alles gut.
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